Die grosse Deutschlandreise

Liebe Eltern! Göttingen, den 15ten Sept. 1851.

[…] Bei schönem freundlichem Wetter zogen wir am 21ten August Mittags von hier fort durch das fruchtbare Thal der Leine an schönen Roggen-, Hafer- und Tabacksfeldern vorbei nach dem netten Städtchen Nordheim, wo die Wege nach dem Harz und nach Hannover sich trennen. Auf dem Wege trafen wir schon manche Vorbereitungen an zu der Eisenbahn, die von Kassel über Göttingen nach Hannover angelegt werden soll. In dem Orte Salz der Helden trafen wir nicht unbedeutende Salinen. Des Abends gelangten wir in die kleine Stadt Einbeck, die in der Reformationszeit berühmt wurde durch ihr gutes Bier, von welchem dem wackern Dr. Luther nach seiner muthigen Verantwortung auf dem Reichstag zur Stärkung und Labung von einem Großen ein hübscher Krug geschenkt wurde. Nach einem frugalen Nachtessen und gesundem Schlaf giengs am folgenden Morgen weiter. Die Gegend, die wir durchwanderten, ist schön und fruchtbar; leider haben aber auch hier wie überall wo wir hinkamen, die Kartoffeln wieder die Krankheit. Das Land ist hier ziemlich bergig und gleicht in mancher Beziehung unserm lieben Vaterlande (näml. den Juragegenden), nur daß man bei uns auf den Höhen keine Windmühlen trifft wie hier, dagegen in den Thälern mehr rauschende Quellen und Bäche, die wir hier vermißten. Besonders gut gefielen mir die prächtigen und ausgezeichnet gut unterhaltenen Laub- und Nadelwaldungen, die wir hier und auch sonst überall in Deutschland fanden, auch da wo der Boden zu mager ist, etwas Tüchtiges zu liefern. Unsere Forstwirthe könnten hier vielleicht noch Manches lernen; die schlanken Tannen und Buchen stehen wie in Reih und Glied, und der Boden dazwischen ist wie gekehrt. Auch der Ackerbau blüht; es werden neben Getreide (besonders Weizen und Roggen) auch viele Saubohnen und andere Hülsenfrüchte gepflanzt und mit ganz sonderbaren halb sensen- halb sichelförmigen Instrumenten eingesammelt. Die Ackergeräthschaften sind meistens leicht. Die schöne Bergstraße, über die wir kamen, giebt den Hauensteinstraßen wohl wenig nach. Die Dörfer sind meist nett und sauber, die Bauernhäuser freilich nicht so groß als bei uns; und das Heu und Stroh bleibt meist in großen Schobern im Freien. – Die Straße ist von Wägen aller Art sehr belebt. Gegen Abend kamen wir in die Ebenen von Norddeutschland hinunter, wo wir schon z. Th. sehr unfruchtbaren und mit Heidekraut bewachsenen Boden antrafen, bald nachher rückten wir in der alten Stadt und dem alten Bischofssitze Hildesheim ein. Die Stadt mit ihren alten schwarzen Thürmen liegt in freundlichen Gärten und Anlagen. Im Innern hat sie beinahe durchgehend das Ansehen einer mittelalterlichen Stadt bewahrt. Die engen Straßen, die mit den Giebeln nach der Straße gekehrten und mit Schnörkeln und mancherlei Bildwerk wundersam verzierten Häuser mit über einander hervorragenden Stockwerken erinnern den Fremden bei jedem Schritt daran, die Stadt selbst ist nicht schön und verräth wenig Reichthum; die Bewohner erhalten sich meist von Gewerben und Ackerbau. Nachdem wir in einem einfachen Gasthause unsere Effekten in Verwahrung gebracht und uns durch eine Tasse Kaffe erfrischt hatten, besuchten wir den interessanten alten Dom. Auf dem Platze vor demselben steht die berühmte eherne Christussäule, die vor vielen hundert Jahren von einem Bischof errichtet wurde und mit schönen erhabenen Darstellungen aus der heiligen Geschichte verziert ist. Berühmt sind im Dome auch die großen eisernen Thürflügel, die ebenfalls solche Darstellungen enthalten, Alles aus einem Guß und schon im Jahr 1015 von [Bischof Bernward] der Kirche geschenkt wurden.

Die Bernwardtür (Detail)#Michael Lenz - Eigenes Werk, Dom Hildesheim, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Bernwardst%C3%BCr_%E2%80%93_Detail.jpg

Aus etwas späterer Zeit stammt der in der Mitte des Schiffes der Kirche hängende ungeheure Kronleuchter, der, wenn ich mich nicht irre, circa 20 Fuß im Durchmesser hat. In der Kirche steht auch die berühmte alte Irminsäule. Sie war von den alten heidnischen Sachsen ihrem Gotte Irmin geweiht und war ein Heiligthum des Volkes. Wie sie in die Kirche gekommen, habe ich wieder vergessen. Die Kirche in ihrem Innern ist ein Prachtgebäude und mit den prachtvollsten Gemälden berühmter Meister wie Veronese, Carracci, Cranach u. A. so wie mit schönen marmorenen Statuen ausgeschmückt. Interessant ist der Rosenstock, dem die Kirche nach der Sage ihr Entstehen verdankt. Er rankt an der Außenwand einer Kapelle im Hofe empor, wohl 30 Fuß in die Höhe und Breite, und Vögel nisten lustig in seinen Zweigen. Der Wurzelstock ist fast so dick wie ein rechter Baumstamm. Er soll vor mehr als 1000 Jahren von Kaiser Karl dem Großen gepflanzt worden sein; urkundlich ist gewiß, daß er schon vor 800 Jahren stand.

Der tausendjährige Rosenstock vor dem Hildesheimer Dom#Stefan Schäfer, Lich - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62984722

Nach kurzem Aufenthalt begaben wir uns auf den Bahnhof, um auf der Eisenbahn an demselben Tage noch nach Hannover zu fahren. Der Hildesheimer Bahnhof ist ganz in der alterthümlichen Art wie die Häuser der Stadt gebaut, was ihm ein hübsches Ansehen verleiht. Die Gegend zwischen Hildesheim und Hannover habe ich, weil es Nacht war, nicht näher betrachten können. Hannover, das wir am folgenden Tage besichtigten, ist eine bescheidene königliche Residenz. Schön ist der Waterlooplatz, wo den bei Waterloo Gefallenen zu Ehren die 162 Fuß hohe Waterloosäule errichtet ist. Sie hat im Innern Treppen auf welchen man bis oben hinauf steigen kann; auf ihrer Spitze steht eine Siegesgöttin. Der Platz ist von Casernen und ähnlichen Gebäuden umgeben. In der Nähe steht in einem einfachen Pavillon das marmorene Denkmal des großen und berühmten Denkers Leibnitz. Das königliche Schloß in der Stadt ist nicht so schön als andere derartige Paläste. Von der Stadt führt eine ½ Stunde lange 3 fache Allee von stattlichen Linden zum schönen königlichen Lustschloß Herrenhausen, in dessen liebliche Gärten Jedem der Eintritt gestattet ist. Der Herrenhäuser Garten ist nach französischem Schnitt angelegt mit hohen hübsch zugeschnittenen Wänden von grünen Hecken, niedliche Wasserwerke sind zwischen lieblichen Blumen und künstlichem Gestein hie und da angebracht, aus grünem Gesträuch und Bäumen ragen steinerne Bildsäulen hervor. – Besonders schön ist der daran stoßende Berggarten mit seinen vielen fremden Blumen und Bäumen Treibhäusern etc. und dem berühmten Palmenhause, dessen Wände und Dach lauter Glas sind und in welchem die seltensten hohen Palmen zu sehen sind. In diesem Garten befindet sich auch die größte Blume, die bisher in Europa zum Blühen gekommen ist, die sogenannte victoria regia. Es ist eine Sumpfpflanze; ihre Blätter, wenigstens so groß als ein ausgespannter Regenschirm und wie dieser fast rund, schwimmen auf der Oberfläche des Wassers. Die röthliche Blumenkrone, wenn sie sich aufthut, hält ¾ Fuß im Durchmesser. Wir besuchten auch den berühmten Marstall des Königs von Hannover und fanden da von muthigen Kleppern eine große Zahl, und in dem einen von beiden großen Ställen zählte ich etwa 100 der schönsten Pferde. Jedes hat seinen eigenen Verschlag, in welchem auch das Geschirr hängt, und seinen besondern Namen. Gar schön sind die sogenannten Isabellen, Pferde von gelblichweißer Farbe und rothen Nüstern. Jede Farbe, die Schimmel, die Braunen etc. stehen immer in einer Reihe, eines aufs Haar wie das Andere. Im Stalle sieht es aber wahrlich sauberer aus als auf unsern Dörfern beim Regenwetter in den Schulstuben, und die Stallknechte wetteifern mit einander, die Gäule recht glatt und sauber zu halten (NB. Hannover wie Mecklenburg sind durch gute Pferdezucht berühmt.)

Nachmittags reisten wir per Eisenbahn weiter. Wir kamen bald, nördl. von Hannover in unfruchtbare Gegenden und fast unübersehbare Heiden, wo nur das einförmige Heidekraut wächst, das höchstens den Schaafen zum Futter dienen kann. In diesen Gegenden wird dagegen viel Torf gegraben, der zum Brennen benützt wird, in Hannover und nachher in allen größern Städten sah ich davon große Wagen voll wie Holz verkaufen. Bei Nienburg und der Stadt Verden wird das Land wieder fruchtbarer und ist mit Getreide und Kartoffeln bepflanzt. Es war wieder Nacht, als wir in der alten Hansestadt Bremen ankamen. Daß in der Stadt große Thätigkeit und reges Leben herrschen müsse, zeigte uns schon das Treiben und Gewimmel am Bahnhof. Ein Kellner aus dem Gasthof, in den zu gehen wir beschlossen hatten, hatte uns bald aufgefischt und führte uns durch die mit Gas hell erleuchteten Straßen der Stadt. Am folgenden Morgen giengen wir bei Zeiten auf Eroberungen aus, d. h. betrachteten die Stadt. Bremen ist eine reiche Handelsstadt fast noch einmal so bedeutend als Basel und hat seine Seefahrer fast auf allen Meeren. Alles deutet auf Wohlstand und bürgerliches Wohlbehagen, und von zerlumpter Armuth sieht man hier weit weniger als in ähnlichen großen Städten. Die festen Wälle rings um die Stadt sind in herrliche Gärten und Anlagen umgewandelt, prachtvolle Gebäude fehlen auch nicht; Läden die denen in Hamburg gleichen und wie Ihr in Basel keine findet, trifft man hie und da. Längs der Weser, über welche eine sehr schöne Brücke führt, und auf Inseln derselben stehen lauter große Magazine mit hohen Giebeldächern. Die unzähligen Schiffe und Schifflein auf der Weser bilden schon einen förmlichen Mastenwald. Wir besuchten, weil es Sonntag war die im Innern prachtvolle Domkirche mit der schönsten Orgel in Deutschland. Merkwürdig ist unter derselben der sogenannte Bleikeller, der die Eigenschaft hat, daß die darin gelegten Leichname nicht verwesen sondern wie zu Leder austrocknen. In offenen Särgen sahen wir viele solcher Leichen, von denen einige mehrere 100 Jahre alt sein sollen. Das schöne alterthümliche Rathhaus ist berühmt durch den Rathskeller, der mit Schaumwein gefüllt ist. Wir konnten ihn jedoch nicht besuchen, weil er an Sonntagen bis 4 Uhr Nachmittags geschlossen ist. Vor dem Rathhause steht die alte merkwürdige Rolandssäule, in rohem Stein eine menschliche Gestalt darstellend als Symbol der städtischen Freiheit.

Rolandsäule vor dem Bremer Rathaus#Pratyeka - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27305246

Wunderschön ist das in einer Anlage vor der Stadt aufgerichtete Denkmal Olbers, eines berühmten Arztes und Gelehrten der Stadt in feinem weißen Marmor.

Denkmal für Wilhelm Olbers in den Bremer Wallanlagen, Carl Steinhäuser, 1848#Godewind (talk) - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21593971

Nach einem einfachen Mittagsmahl begaben wir uns auf das Dampfschiff „Hanseat“ die Weser hinunter dem Meere zu, nach Bremerhafen zu fahren. Der Weserfluß ist sehr belebt durch die vielen kleinen Segelschiffe, die denselben hinauf und hinunterfahren. Das Land liegt sehr niedrig und man sieht vom Fluße aus nur die beiden schmalen Uferstreifen. Die Nähe des Meeres erkennt man an der enormen Breite (bis 2 Stunden) die der Fluß, je weiter man hinunter kommt, einnimmt. An den Ufern sieht man viele Schiffswerften, wo Schiffe, und mitunter sehr große, gebaut werden. In hohen bis ans Wasser gehenden Balkengerüsten ruht das Ungethüm, das darin angefangen und vollendet wird. Ist das Schiff so weit fertig, daß es flott gemacht werden, d. h. ins Wasser gehen kann, so wird das Gerüste unter demselben weggenommen, und es sinkt an den Ort seiner Bestimmung. Auf unserm Schiffe hatten wir nicht die angenehmste Gesellschaft. Eine große Masse von schmutzigem Matrosenvolk kam und vermehrte sich bei jeder Station. Sie kauten Tabak und spukten Alles so voll, daß man fast nicht sicher war. Flüchtete man sich aber in die Cajüte hinunter, so war es da noch ärger. Der Tisch war mit graubärtigen Juden besetzt die Schnapps tranken und drauf los Karten spielten als ob sie die halbe Welt gewinnen wollten, mitunter auch stritten und dazu einen Höllencanaster rauchten, daß Einem Hören und Sehen vergieng. Bald winkten uns aus der Ferne die Mastenspitzen der in Bremerhafen liegenden Schiffe entgegen. An dem Ufer sahen wir schon deutlich die Zeichen der Ebbe und Fluth. (Es war gerade Ebbe.) Unser Dampfer strich an der hier vor Anker liegenden deutschen Flotte vorbei, die aus vielen recht großen und festen Dampfschiffen besteht. Malerisch war der Anblick, wenn von jenen Schiffen Schaluppen mit rüstigen standesgemäß uniformierten Matrosen mit ihren weißen Hemden und im Winde wallenden schwarzen Halsbinden besetzt, die aufs Commando ruderten, an unser Schiff nahten und Offiziere an das Bord unseres Schiffes brachten. Die Sonne neigte sich auf dem fernen Meeresspiegel nach dem Horizonte, als wir in Bremerhafen, dem eigentlichen Hafenorte von Bremen, landeten. Wir erstaunten nicht wenig über die ungeheuren sich in die Fluth hinauserstreckenden künstlichen Dämme, die den natürlichen Hafen noch vervollkommnen und zu einem ganz sichern Ruheplatz der Schiffe machen. Der eigentliche Hafen sieht aus wie ein kleiner See, der von 3 Seiten durch Dämme und Wälle umgeben, von der vierten durch eine große Schleuse, die geöffnet wird, wenn die Schiffe hinaus- oder hereinfahren, vom großen Wasser abgeschloßen ist. Darinnen nun stehen dicht gedrängt Schiff an Schiff, große Dreimaster und kleinere Zweimaster, aber alles Seeschiffe, bunt durcheinander, die unzähligen hohen Masten und daran liegenden Segelstangen nebst den wundersam verwickelten Tauen, Stricken und Seilen bilden einen eigenthümlichen Wald, in welchem, wenn der Wind dadurch streicht, es unaufhörlich seltsam girret, sauset und pfeift; der Wind ging gerade bei unserer Ankunft sehr stark, so daß mehrere zum Auslaufen bereit stehende Schiffe nicht in die See gehen konnten. Die meisten Dreimaster, die hier lagen waren Auswandererschiffe, weil die deutschen Auswanderer, deren es sehr viele giebt, fast alle über Bremen auswandern. Von der Größe eines solchen Dinges und seinen Einrichtungen macht Ihr Euch gar keinen Begriff. Die meisten sind 2 mal oder fast 3 Mal so lang als Euer Schulhaus; (ich habe immer 80 und auch mehr oder etwas weniger von meinen Schritten gebraucht es zu messen.) und 30–40 und mehr Fuß breit. Obgleich es vom Ufer noch ziemlich tief bis zum Wasserspiegel geht, so führen doch Dielen wie beim Gerüste eines Hauses noch hoch hinauf. Die Taue, mit welchen solche Schiffe an die Pflöcke am Ufer angebunden sind, sind wohl so dick wie meine Arme und so schwer, daß mehrere Männer eines auf die Achseln nehmen müssen, um es vom Schiffe aus ans Land zu schleppen. Die großen schweren eisernen Anker haben Holme, 8–10 Fuß lang und so dick wie ein rechter Mannsschenkel, im gleichen Verhältniß ist dazu der Bogen mit den Zacken und die ungeheuren Ketten, an denen sie befestigt sind und zu je zwei am Vordertheil des Schiffes herabhängen. Die Mastbäume sind wie rechte Tannen, und eine große Segelstange, die auf einem Schiffe lag, mit großen eisernen Reifen und die ich maß, war 35 meiner Schritte lang und dick wie ein kleiner Sagbaum.

Auswandererhaus in Bremerhaven, 1850.#https://de.wikipedia.org/wiki/Auswandererhaus_Bremerhaven#/media/Datei:Auswandererhaus_-_ Bremerhaven_-_1850.jpg


Wir trafen im Orte sehr viele Auswanderer, meistens Oberdeutsche, an; Alte und Junge, oft Familien mit ganz kleinen Kindern. Viele waren gut gekleidet, Andere erschienen in halbnackter Armuth. In Bremerhafen steht ein großes hübsches deutsches Auswanderungshaus, wo die guten Leute, bis sie sich einschiffen können, untergebracht und versorgt werden, was für sie eine große Wohlthat ist. Da noch an demselben Tage ein Schiff abfahren sollte, so sahen wir die Leute in voller Thätigkeit, ihre Koffer und kleinen Siebensachen auf das Schiff zu bringen. Alte Mütterchen trippelten furchtsam, unterstützt von jungen kräftigen Händen, die schiefen Dielen über dem Wasser auf das Schiff hinauf, um vielleicht zum ersten Mal ihr hölzernes bewegliches künftiges Wohnhaus von Innen zu besehen. Es geht hier Alles durch einander, man weiß kaum wer Koch und Kellner ist. Wir stiegen ohne Jemand zu fragen, auch auf ein solches Schiff, niemand fragte was darnach, vielleicht hielt man uns ebenfalls für Auswanderer.

Deutsche Emigranten gehen an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)#Chris 73, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60278

Es wird nun Euch interessant sein, ein Bild von der innern Einrichtung eines solchen Fahrzeuges zu erhalten. Wir blieben zunächst oben auf dem Verdeck, über das hoch empor die Mastbäume ragen und das durch die am Bord des Schiffes befestigten und nach der Spitze der Masten gehenden Taue wie von einem Netz umgeben ist. – Auf dem Hintertheil des Schiffes nun (auf dem Verdeck) steht wie ein hübsches Häuschen die Cajüte des Capitäns und mehrere Zimmer für das höher stehende Schiffspersonal. Ganz hinten steht das Steuerrad, der Compaß und ähnliche Instrumente. Auf dem Vordertheil stehen wieder ähnliche aber weniger hübsche Gemächer. Dort befindet sich auch die große Winde, an welcher die Anker herauf gewunden oder herabgelassen werden. Auf dem übrigen noch freien Raum wurden viele Küchen aus Backsteinen errichtet, zum Gebrauch der Auswanderer, wenn ich nicht irre. Gehen wir nun eine Treppe hinunter, so kommen wir in den großen weiten Raum, den man das Zwischendeck nennt und der der eigentliche Aufenthaltsort der Auswanderer ist. Wer aber einmal hier hineingeschmeckt hat, könnte fast die Lust zum Auswandern verlieren. Denkt Euch die große Bühne Eures Schulhauses, nur etwa noch einmal so lang und etwas breiter. Die Kamine in der Mitte sollen die Mastbäume sein (die ja bis auf den Grund des Schiffes reichen). Längs den Wänden nach denkt Euch nun Verschläge, die aufs Haar aussehen wie die Obsthürden in unsern Kellern oder Estrichen, die unterste auf dem Boden, die andern so viel weiter oben, daß der darunter sitzende aufrecht bequem sitzen kann. Das sind die Bettstellen der Auswanderer, worin sie oberflächlich ihre Betten legen und also unter- und übereinander schlafen. Die Verschläge der einzelnen Abtheilungen, wo immer 2 und mehr schlafen können, sind so wenig von einander abgeschlossen daß man leicht bei starker Bewegung des Schiffes oder unruhigem Schlaf aus einem Gemach ins Andere trölen könnte. Und nun denkt Euch diese 100 bis 200 Leute, die hier nisten müssen in dem dunkeln dumpfen Raum, wo nur von Oben einiges Licht kommt, oft darunter zusammengelaufenes Volk, alte schwächliche Leute und kleine unreinliche Kinder. Es war Vormittags 8 oder 9 Uhr, als wir diese Räume besuchten. Viele lagen noch halb angekleidet auf den einfachen nicht immer sehr reinlichen Betten. Mütter reinigten die Kinder, indem sie vorn auf dem Bette saßen, Andere kämmten und lausten; diese packten ihre Kisten ein, jene aus, Alles durcheinander. Und bei Alle dem war darin eine dumpfe drückende Luft fast nicht zum Aushalten. Unter diesem Raum sind die Räume für die Vorräthe des Schiffes, wir sahen große Lager von Tonnen für das Trinkwasser etc. Daß Hühnerställe, Kühe etc. auf solchem Schiffe nicht fehlen dürfen, könnt Ihr Euch denken.

Deutsche Auswanderer auf dem Weg nach Amerika im Zwischendeck eines Segelschiffes.#Von Bundesarchiv, Bild 137-041316 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5337519

Bremerhafen ist ein erst vor wenig Jahren entstandener Ort, dennoch ist er schon ziemlich bedeutend, und dürfte in wenig Jahren zu einer ansehnlichen Stadt [werden]; es wird wie rasend drauf los gebaut und die Handwerksleute haben hier guten Verdienst. Die Häuser sind fast alle aus Backsteinen gebaut. In einem Garten sahen wir circa 200 Stück großer Kanonen, wenigstens 24-pfünder, die auf die deutsche Flotte gehören sollen. Nachdem wir uns dieß Alles angesehen hatten, zogen wir und zwar weil schlechtes Wetter, Sturm und Regen eingetreten war, und unsere beiden Reisegefährten ihre schweren Nachtsäcke nicht durch den tiefen Sand zu tragen vermochten in einem leider offenen Wagen weiter nach Norden. Ein kalter schneidender Nordwind vom Meere her brachte heftige Regengüsse und durchnäßte uns trotz unserer Mäntel. Das Land, durch das wir fuhren, besteht aus angeschwemmtem Meeresschlamm und wurde dadurch gewonnen, daß gegen das Meer hin große Dämme errichtet wurden. Es ist sehr fruchtbar und alle Pflanzen sind darauf viel üppiger als sonst irgend wo. Roggen, Bohnen, Kartoffeln, die Wiesen, Alles war so schön als man’s nur wünschen kann. Dagegen sind die Wege, wo sie nicht eigens gepflastert sind erbärmlich schlecht, und der Wagen sank oft bis fast an die Achsen in den tiefen Sand. Die Dörfer sind reinlich und die aus den rothen Backsteinen gebauten Häuser mit bemalten Thüren und Kreuzstöcken nehmen sich zierlich aus. Die Bauersleute haben eine eigene aber hübsche Tracht. Das Land ist bekannt unter dem Namen „Marschen“. Trauriger sah es des Nachmittags aus, als wir weiter nach Norden kamen. Wir steckten wie mit einem Male in der weiten öden dürren Heide. So weit der Blick reichte, sah man weder Baum noch Haus noch irgend etwas Anderes als das langweilige höckerichte Land mit dem röthlichen einförmigen Heidekraut. Es macht ein solcher Anblick einen ganz peinlichen und unheimlichen Eindruck auf unser Einen, der noch durch den kalten beißenden Wind vermehrt wurde. Kein ordentlicher Weg führte durch die unwirthliche Gegend, wir holperten ungeduldig über den holperichten harten Boden. Gegen Abend heiterte sich zu unserer Freude der Himmel wieder auf, wir kamen wieder in fruchtbare Gegenden und fuhren bald darauf zum freundlichen Städtchen Ritzenbüttel ein und einige Minuten nachher in den nördlichsten Hafen vom westlichen Deutschland, in Cuxhafen. Schon winkte uns vom nahen Meeresstrand der hohe runde Leuchtthurm entgegen und dehnte sich hinter demselben die unabsehbare blaue Wasserfläche aus, auf der zerstreut die vielen Schiffe nah und fern vor Anker lagen. Wir erwärmten uns im einfachen Gasthaus Belvedere, das gerade nach dem Meere hinausschaut an einer Tasse Kaffe und giengen sodann an das Meer hinaus. Welch ein Anblick war dieß für uns! Beschreiben kann ich ihn nicht. Wir blickten stumm hinaus in die bewegte Fluth, die ihre Wellen unaufhörlich an das Ufer rollte, von wo sie plätschernd wieder zurückprallten. Große sogenannte Seeschweine rollten sich vor unsern Augen lustig und wild in den grünen Wellen und sahen, wenn ihr Rücken hie und da über das Wasser hervorragte, aus wie ordentliche vom Wasser umhergepeitschte Fäßchen. Auf dem fernen Spiegel aber standen wie stumme Geister halb in Nebel gehüllt die Schiffe mit den schwellenden Segeln. Die Einwohner von Cuxhafen nähren sich meist von Fischfang und Lootsendienst. Ein Lootse ist ein solcher Mann, der die Gewässer aufs Genauste kennt und den jedes Schiff, das hier einfahren oder vorbeifahren will, haben muß, wenn es nicht Gefahr laufen will, auf eine der vielen Sandbänke zu stoßen, und daran zu scheitern, die nahe bis an die Oberfläche des Wassers gehen, die man aber doch nicht sieht. Auf den folgenden Tag rüsteten wir uns zu unserer Seereise nach der englischen Insel Helgoland, die Grieder schon lange auf seinem Reiseplan gehabt hatte und die gegen mein Erwarten dank seiner Hartnäckigkeit auch wirklich ausgeführt wurde. Verzeiht, daß ich früher Euch davon nichts gesagt; einerseits glaubte ich nicht an deren Ausführung, andererseits aber wollte ich Euch nicht auf so viele Wochen in Angst und Schrecken setzen. Sie ist jetzt glücklich vorbei und ohne einen Unfall, ein Bischen Seekrankheit abgerechnet, geschehen. Wir bereuen jetzt nicht, sie gemacht zu haben. Doch von dieser Seereise und den weitern Erlebnissen im folgenden Briefe mehr. […]

Grüßt mir alle Verwandte und Bekannte und seid ebenfalls herzlich gegrüßt von Euerm Euch herzlich liebenden Sohn
Jonas

Liebe Eltern! Göttingen, den 14ten Oct 1851.

[…] Da Ihr begierig seid, die weitere Beschreibung meiner Reise zu hören, so soll hier sogleich die Fortsetzung folgen; ob ich bis zum Schlusse werde gelangen können, wenn ich so ausführlich bin wie das vorige Mal, bezweifle ich, den Rest würde ich in einem folgenden Briefe nachholen. Wir sind das letzte Mal, glaube ich, in Cuxhafen, das Ihr wohl auf jeder guten Karte von Deutschland findet, im Anblicke der Nordsee stehen geblieben. Mit Sehnsucht erwarteten wir am folgenden Tage das von Hamburg kommende große und feste englische Dampfschiff „Mercator“. Gegen Mittag erblickten wir einen kleinen schwarzen Punkt auf der weiten Wasserfläche fern im Südosten. Der Wirth schaute durch sein großes Fernrohr und versicherte uns, in einer Stunde würde das Schiff da sein. Als es näher kam, giengen wir nach dem Ufer, und in einem schüttelnden Boote wurden wir dem majestätisch einherziehenden Koloß, von welchem eine helle Blechmusik herübertönte, entgegengeführt. Als wir ganz in der Nähe waren, machte das Dampfschiff Halt, eine Treppe wurde hinuntergelassen, auf welcher, mehr gestoßen als gehend, wir auf das Schiff gelangten. Dieses fuhr unverzüglich weiter und trieb die herangenahten Boote mit den von seinen Rädern gepeitschten Wogen weit in die Fluth hinaus.
Doch ehe ich von der weitern Reise erzähle, will ich unser Boot (Dampfboot) so gut es meine schwache Feder vermag, in der Kürze beschreiben. So oft ich schon auf Dampfschiffen auf unsern Schweizerseen, dem Rhein und der Weser gefahren bin, eine solche Vorstellung von einem Seedampfschiff, wie ich jetzt eine bekam, hätte ich mir nicht gemacht. Es nimmt sich dieses gegen jene aus wie eine ordentliche Chaise gegen ein Kinderwägelein. Mehr als 15 Fuß ragte der Koloß noch aus dem Wasser hervor, seine Länge betrug 180–200 Fuß, seine Breite circa 30 oder 35. Zwischen den beiden ungeheuren Räderkasten, die vom Verdecke des Schiffes aus, sich immer noch etwa 25 Fuß hoch erhoben und auf deren Höhe hinauf 2 Treppen führten, ragte aus dem Grunde des Schiffes die ungeheure Maschine wie ein kleines Haus empor, in ein eigenes gläsernes Gehäuse eingeschloßen und ihre gewaltigen eisernen Arme unaufhörlich senkend und hebend. Eine Treppe hoch war zwischen den beiden Räderkasten und um die Maschine herum ein hübscher mit einem Geländer umgebener Balkon angebracht, wo etwa 40 Personen auf hier stehenden Stühlen und Bänken bequem sich placieren konnten und von wo herab man eine hübsche Aussicht hatte auf das Leben auf dem Schiffe und auf das weite Meer. Dort oben standen auch die erwähnten Hamburger Musikanten, die eine ohrenzerreißende englische Musik machten. Vor der Maschine und dem Balkon, ebenfalls noch auf dem mittleren Raume des Schiffes erhob sich das gewaltige Kamin, an welches sich die Schiffsküche lehnte, wo die rußigen Schiffsköche emsig ihre Geschäfte trieben, während die flinken Kellner wie Wespen herumflogen, die Passagiere zu bedienen. Daß es Einen in der Nähe dieser Feuerwerke ziemlich warm machen muß, könnt ihr Euch denken. Die gewaltigen Räder unter den Kasten zu beiden Seiten des Schiffes aber zerschlugen die Wogen so gewaltig, daß man vom feinen sich erhebenden Wasserstaube noch in ziemlicher Entfernung ganz genäßt werden konnte, wenn man den Kopf über das Bord des Schiffes hinaus streckte, und einen die Haare vom daran hängenden Salze ganz weiß wurden, da das Wasser schnell verdunstete. Zu beiden Seiten des eben beschriebenen Theils des Schiffes, dehnte sich dieses noch weithin aus, und bot da den eigentlichen Aufenthaltsort der Reisenden dar. Zwei große Mastbäume, auf jeder Seite einer, erhoben sich da mit ihren Strickleitern und Segeln. Daß das weite Verdeck einen ordentlichen Spaziergang erlaubte, könnt Ihr Euch vorstellen. Sehen wir uns zunächst das Vorderdeck an. Zunächst führt uns eine Treppe hinunter in die zweite Cajüte, eine ordentliche Stube wenigstens so groß als Eure Wohnstube mit dem Nebenzimmer zusammen und schön tapeziert. Weiter hinten führt eine andere Treppe hinunter in die Restauration, wo neben zwei ordentlichen Gastzimmern, in denen die Tische immer gedeckt sind, noch zwei Trangierzimmer sich befinden. Ihr könnt hier essen was Ihr wollt, wie in einem rechten Gasthaus. Nach meiner Berechnung könnten circa 40 Personen ganz bequem auf einmal hier gespeist werden. Der übrige Raum unten im Schiffe ist für Gepäck u. dgl. frei. Auf dem schöneren Hinterdeck führt eine Treppe hinunter in die erste Cajüte, die schöner aussieht als wohl jede Stube, die Ihr noch gesehen habt. Prachtvolle Teppiche decken den Boden, schöne Polster ringsumher, die mit rothem Sammt beschlagenen Wände rings mit Spiegeln überdeckt. An die Cajüte stoßen noch viele kleinere Gemächer ebenfalls sehr schön ausgeziert, meist zu Schlafzimmern dienend. Die Leute halten sich aber, wenn es das Wetter nur irgend zuläßt, alle oben auf dem Verdeck auf, sowohl der frischen Luft wegen, als weil die Seekrankheit hier erträglicher ist. Auf unserm Schiffe waren wenigstens 100 Reisende Herren und Frauenzimmer, zum großen Theil solche, die in die Seebäder nach Helgoland reisten; sie durften jedoch schon auf dem Schiffe die Cur anfangen, wie ich in der Folge zeigen werde.

Von Cuxhafen bis zur Insel Neuwerk zog unser Schiff ruhig einher, weil wir uns noch nicht auf dem Meere selbst sondern noch immer auf dem hier ungeheuer breiten Elbstrom befanden. Als wir aber am sogenannten Feuerschiffe und bei der rothen Tonne vorbeigekommen, die als Wegweiser und Warnungszeichen für die Schiffer hier Jahr und Tag stehen, traten wir auch gleich in die offene See, wie wir bald an dem plötzlichen ungewöhnlichen Schaukeln des Schiffes sehen konnten, denn das Meer war nach dem Zeugniß Aller sehr unruhig. Heftige Winde zogen daher und brachten dichte Wolken und Regenschauer, das Meer war von schwarzen Nebeln eingehüllt; doch kam es nicht zum Sturme, und der Himmel heiterte sich bald wieder auf. Unser Dampfer aber machte gewaltige Sprünge, bald mit seinem Schnabel die Wellenberge hinan und dann wieder hinunter (es war wie auf einer Gigampfi). Da hättet Ihr nun die komischen Scenen sehen sollen, die es überall gab. Keiner konnte natürlich mehr gehen und stehen und die, welche eine Minute vorher so klug und vernünftig ausgesehen hatten, sahen nun aus, als hätten sie Alle einen Stiper geholt. Die welche auf der Mitte des Schiffes standen, suchten sich entweder balancierend zu halten oder suchten taumelnd ein Plätzchen zum Sitzen. Unter solchen Umständen ließ die eigentliche Seekrankheit nicht lange auf sich warten. Die zarten Frauen legten sich todtenblaß auf den Boden, während ihre Männer, sich selbst fast nicht zu helfen wissend, sie mit ihren Mänteln deckten und ihre Köpfe hielten. Ein Matrose sprang emsig mit seinem großen Schiffsbesen herum und ein Schiffsmädchen stellte überall Becken auf. Doch die Scene will ich nicht weiter beschreiben, sie läßt sich denken; auch ich habe der Natur ihren Tribut bezahlen müssen. Eine geraume Zeit lang hatten wir zwischen Himmel und Wasser geschwebt, als frohe Stimmen riefen: Helgoland! und das Eiland in weiter Ferne wie eine Feste sich aus der grünen Fläche erhob, im Scheine der Abendsonne glänzend. –

Raddampfer «Elbe» (1835–ca. 1855) vor Helgoland, ein kleinerer Vorläufer der britischen «Mercator» im Bäderverkehr Hamburg-Cuxhaven-Helgoland-Norderney. (kolorierte Lithografie um 1845).

Bald stand das hellrothe Eiland mit seinen freundlichen Häusergruppen vor uns und etwa eine halbe Stunde davon entfernt, die weißen Sandhügel, wo die Seebäder sich befinden. Da es gefährlich ist, zu landen mit einem so großen Schiffe, so blieb unser Dampfer mitten zwischen beiden stehen, während mit rüstigen Matrosen besetzte Boote uns abholten und taktmäßig ihre Ruder schlagend unter kauderwälschem oder vielmehr englischem Gespräch uns ans Ufer brachten. Dort war eine große Menschenmasse versammelt, die auf dem sandigen Boden den Ankommenden nur ein kleines Weglein zum Passieren frei ließ. Es waren die vielen hier sich befindlichen Badegäste, die aus Neugierde herbeigeströmt waren, meist um sich an den Gesichtern zu ergötzen, auf denen sich noch Spuren der Seekrankheit befanden, auf die sie dann mit Fingern zeigten. Dieser Herr, jene Dame! ertönte es beständig unter heiterm Gelächter, man mußte eigentlich Spießruthen laufen. Als ich ruhigen Schrittes den fatalen Gang passierte, hörte ich auf einmal auf gut baseldeutsch meinen Namen rufen (ich war nämlich allein, weil wir nicht mehr Alle auf dem gleichen Boote Platz hatten; Grieder war auf dem ersten voraus, die andern zwei kamen auf einem dritten hintennach.) Es war Studio Hiß, der mit mir in Basel auf dem Pädagogium gewesen war und nun in Berlin studiert. Er hatte auch eine Reise hieher gemacht und sich hier einige Zeit aufgehalten; am folgenden Tag kam er mit uns nach Hamburg zurück.

Die Insel Helgoland besteht aus einem einzigen großen Sandsteinfelsen, und hat etwa seine halbe Stunde im Umfang. Der Felsen erhebt sich überall fast senkrecht aus den Meeresfluthen und ist oben eben abgeplattet, so daß er ganz aussieht, wie eine eigentliche Festung. Nur auf der Seite gegen die Dünen (Sandhügel) ist er niedriger, nicht hoch über der Meeresfläche und ganz von Häusern die z. Th. sehr hübsch sind, bedeckt. Eine große breite und hohe hölzerne Treppe führt aus dem letztern sogenannten Unterland in das Oberland. Auch letzteres ist fast ganz mit Häusern bedeckt. Auf demselben steht auch die Kirche und der hohe Leuchtthurm. Von Pflanzen findet man keine Spur. Die Ufer sind mit Seetang ganz bedeckt, der gerade aussieht wie große Scheiben eingeweichten Leimes. Ein starker Fischgeruch zieht sich über die Insel. Die Einwohner sehen frisch und rüstig aus und haben eine eigenthümliche sie nicht übel kleidende Tracht. Sie nähren sich meist von Fischfang und Lootsendienst (daß ein Lootse ein Mann ist, der die Fahrwasser des Meeres genau kennt und um einen guten Lohn die vorbeiziehenden Schiffe leiten muß, wißt Ihr wohl schon). Auch geben die jährlich hier zahlreich sich einfindenden Badegäste, denen die Leute ihre Zimmer vermiethen, sie an die Badeplätze führen etc. den Inselbewohnern viel zu verdienen. Wir logierten in einem einfachen Gasthofe noch ziemlich billig für einen solchen Ort. Während der Nacht erhob sich ein gewaltiger Sturm, auf unserm Dampfschiffe soll die ganze Mannschaft die Nacht hindurch gewacht und gearbeitet haben. Der Regen floß in Strömen herab. Ich fürchtete, wir müßten längere Zeit hier festgebannt bleiben. Doch heiterte sich am Morgen der Himmel wieder auf, die See war jedoch wo möglich noch unruhiger als Tags zuvor. Nach einem einfachen Frühstück stiegen wir um ½ 7 Uhr wieder in ein Boot und ließen uns schaukeln, dem Dampfschiffe zu. Es ist merkwürdig wie mir so alle Furcht vor dem unsichern Element vergieng, indem ich ja von Haus aus eher ein Fürchtibutz als ein Waghals bin und früher mich gefürchtet hätte in einen Kahn auf dem stillen Rhein zu steigen, der doch gewiß stiller fährt als unser Boot es that, das wie eine Nußschale über die unebene Wassermasse glitt. Um 7 Uhr fuhren wir auf unserm Dampfer weiter. Die lustige Musik hatte sich auch wieder eingefunden, und die stolzen Söhne Apolls ließen hell ihre Hörner erschallen, als unser Boot wie ungeduldig sich gewaltig schüttelte und jene Herren zum Schweigen brachte, die mit den ernsthaft lächerlichsten Gesichtern, wie sie an sich schon komisch genug aussahen, ihre Instrumente unter allgemeinem Gelächter der Zuschauer unter den Arm nahmen und in größter Verlegenheit taumelnd nach allen Seiten hin zerstoben, wider Willen einmal eine treffliche Komödie spielend. Unser Schiff schaukelte wirklich wieder gewaltig, nur in anderer Weise als Tags zuvor, nämlich nicht von vorn nach hinten, sondern von einer Seite zur andern. Dieß Mal blieb ich von der Seekrankheit frei, die sonst wieder wie Tags zuvor ihr Spiel trieb. Ich blieb immer stehen, indem ich mich an einem der vom Mastbaum herunter hängenden Stricke hielt. Nach einiger Uebung brachte ich es bald dazu, auf dem Schiffe herumzuspazieren, was mir einmal gut kam und mich aus großer Angst befreite. Nämlich Grieder, der beide mal heftig von der Seekrankheit affiziert wurde, hatte sich gleich von Anfang zu hinterst auf dem Schiffe postiert und lehnte seinen Leib über das Bord des Schiffes hinaus, um wenigstens nicht mitten auf dem Schiffe sich und Andere zu incommodieren. In dieser Stellung hatten wir ihn schon lange gesehen; plötzlich aber verschwand er unsern Blicken. Wir fürchteten natürlich, er möchte, als es ihm gar übel ward, hinuntergefallen sein, einstweilen konnte aber keiner hingehen nachzusehen. Als ich mich endlich hinwagte, lag er hinter dem Steuermann ausgestreckt auf dem Boden; weil es ihm in dieser Stellung oder Lage weniger machte. Das Schauspiel des mit dem Meere kämpfenden Schiffes war für uns wirklich interessant, 15 bis 20 Fuß hohe Wogen mit langen schäumenden Rücken wälzten sich beständig heran, und hoben das Schiff auf der einen Seite gewaltig in die Höhe, indem sie unter demselben hindurchglitten, auf der andern Seite dann weit in die bewegte Wasserfläche hinausrückend. Interessant war es, die Segelschiffe anzusehen, an denen wir vorbeifuhren, die bald hoch auf der Höhe einer Welle standen und bald so tief im Thale, daß wir kaum noch den Rand des Schiffes sehen konnten. Dabei standen ihre Masten oft so schief, daß es Einem war, sie müßten umschlagen. Unser Schiff aber, das mit seinem Kiel gewaltig die Wogen durchfurchte, ließ hinter sich eine weithin sichtbare eigentliche Wasserstraße. Wir hatten Helgoland bald aus den Augen verloren, das Wetter war äußerst lieblich und das Meer spiegelte tausendfach die hellen Strahlen der Morgensonne, dieselben vielgestaltig in seinen Wogen brechend. Am Mittag da wir Hunger bekamen, aßen wir in der Restauration einen guten Kalbsbraten mit Kartoffeln; das mußte dann aushalten bis Hamburg. Nachmittags um 1 Uhr kamen wir glücklich wieder in Cuxhafen an und fuhren sofort weiter den breiten trüben Elbstrom hinauf Hamburg zu. Große Schwärme von Seemöven verfolgten unter großem Gekreische unser Schiff. Die nach und nach näher zusammentretenden Ufer gaben dem meerähnlichen Strome wieder das Gepräge eines Flußes. Gegen Abend winkten uns aus der Ferne die Masten im Hafen von Hamburg und die Stadt mit ihren Thürmen entgegen, und um 5 Uhr landeten wir in dem von Schiffen aller Art besetzten und belebten Jonashafen und eilten sogleich in die Stadt.

Blick auf die Landungsbrücken 1860. Die schmutzigen Dampfschiffe mussten an den St. Pauli-Landungsbrücken im Jonashafen anlanden.#https://www.hamburg.de/image/241540/16x9/990/557/f0d9de125267031767a1d07265dde5f8/Ai/ansichten-von-hafen-und-elbe-08.jpg

Wir logierten in Zinks Gasthof, dessen Besitzer zwei Brüder aus Graubündten sind, die sehr gute Geschäfte machen und bei denen fast alle hier durchreisenden Schweizer sich einquartieren. Wir trafen dort auch zwei Basler, einen «Müller» der mit mir im Paedagogium gewesen war und hier in eine Handlung tritt, und einen Basler Commis voyageur. Ersterer, schon etwas bekannt in der Stadt, gieng mit uns herum und erzählte uns auch viel von der Londner Ausstellung, die er auch besucht hatte. Wo soll ich nun aber mit der Beschreibung der Stadt anfangen? Daß diese lebhafteste und größte Handelsstadt Deutschlands von 150’000 Einw. anno 42 zum Viertheil abgebrannt ist, mögt Ihr Euch wohl noch erinnern, davon würde man jetzt keine Spur mehr sehen, wenn nicht die prachtvollen Straßen und Gebäude, die aus dem Schutte, schöner und herrlicher als die früheren waren, wieder erstanden sind, Einen daran erinnerten. Wir logierten gerade dem großen und schönen Gebäude der Börse gegenüber und nicht weit von dem schönsten Theile der Stadt, dem alten und neuen Jungfernstieg, wohin wir uns auch bald nach unserer Ankunft begaben. Dieser Platz soll an Schönheit und Pracht in Europa seines Gleichen suchen. Ein großes viereckiges Wasserbecken, die sogenannte Binnenalster, das durch den die Stadt durchfließenden Alsterfluß gebildet wird, einen Umfang von circa 2300 Schritten hat und durch hübsche Gondeln und Schwäne belebt wird, bildet gleichsam den Mittelpunkt des Platzes. Um dieses Becken, das zunächst von einer Allee umschloßen ist, ziehen sich nun auf 3 Seiten Reihen der herrlichsten Paläste hin, während die vierte durch einen Wall und schöne Spaziergänge geschloßen ist. Besonders schön von diesen 3 Häuserreihen sind nun die zwei: der alte und der neue Jungfernstieg, lauter palastähnliche Gasthöfe (in dem einen auch Hiß logierte) und prachtvolle Kaufläden. Von denen letztern, die hier und an der sehr schönen Straße „Neuer Wall“ sich befinden, macht Ihr Euch gar keinen Begriff. Da sind die großen und weiten Kreuzstöcke ebener Erde mit einer einzigen Scheibe versehen, hinter welcher die ausgewähltesten Waaren aller Art, so selten und so schön, wie unser Einer sie nie sich träumen könnte, das Auge des Vorübergehenden locken. Silberarbeiten, wo fein aus Alabaster geschnitzte Engel, zierlich und schön durch einander verschlungen, kunstreich getriebene Schalen halten u. s. f., mannshohe Leuchter nach allen Regeln der Kunst und für alle Ansprüche des Geschmackes gearbeitet, Vasen u. a. mehr. Oder wallende feine Tücher und was die Kunst und der Luxus dergleichen mehr noch aufzubieten vermag. Großartig ist auch Sillems Bazar am alten Jungfernstieg, 352 Fuß lang, eine mit fortlaufender Glaskuppel überwölbte Straße von zwei Reihen Kaufläden, mit Marmor und Bildwerk reich verziert; das Auge ist Einem wie geblendet ob all den Herrlichkeiten.

Sillem’s Bazar 1848, erbaut 1843, die erste große Einkaufspassage in Deutschland#Unbekannt - pincerno; Link: [1], PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3774661

Merkwürdig sind die auch auf den schönsten Häusern sich befindlichen gegen die Straße offenen Keller, wo Kaufläden aller Art aufgeschlagen sind oder mehr noch Gaststuben und Pinten sich befinden. Viele sind sehr schön offen und heiter, so daß man von der Straße ganz in sie hineinsehen kann, viele aber auch besonders in den ältern engen Straßen finstere grausige Löcher, so daß es Einem ordentl. schaudert, nur hineinzusehen, geschweige denn hineinzugehen, zumal da man weiß und vermuthen kann, wie viel Unlauteres und Frevles in diesen Höhlen getrieben wird. Wie es daher im Innern derselben aussieht, kann ich Euch nicht sagen, weil ich in keiner gewesen bin.

Merkwürdig und für Hamburg bezeichnend sind die sogenannten Austernkeller, wo Austern, eine Art schleimiger Seethiere als Leckerbissen verkauft werden. Für meinen Gout sind sie freilich nicht; auf den zierlichen weißen Tellern aber, auf welchen sie zur Schau liegen, nehmen sie sich mit ihren hellen Farben hübsch aus. Ein solcher Keller ist auch immer außen angedeutet durch einen Haufen von Muscheln, die neben dessen Eingang liegen. Sind die Straßen des neuerbauten Theiles der Stadt prachtvoll zu nennen, so finden sich dagegen im alten Theile noch viele sehr enge und finstere Gassen, deren hohe Häuser mit den Giebeln gegen die Straße gekehrt sind. Ein Denkmal des Brandes bildet noch der Petri Thurm, ein Kirchthurm, der, während fast ringsherum Alles abbrannte und zusammenfiel, stehen blieb; die daran stoßende Kirche ist neuerbaut. Vom Brande verschont blieb auch ein großes Gebäude in dessen Nähe, das Johannäum, in welchem die Bibliothek und die höhern Schulen Hamburgs sich befinden. Den Thurm der Michaeliskirche, der noch höher sein soll als der Straßburger Dom, haben wir nicht bestiegen. Ebenso auch nicht den in der Nähe der Stadt befindlichen Wasserthurm, von wo durch Wasserkünste das Trinkwasser, das freilich nach unserm Geschmack erbärmlich schlecht ist, in die Stadt getrieben wird. – Daß in einer so großen Handels- und Weltstadt, wie Hamburg ist, ein reges Leben herrschen müsse, könnt Ihr Euch denken. Omnibus und Droschken durchrasseln in Einem fort die Stadt nach allen Richtungen und fahren zu jeder Stunde auch nach den Umgebungen der Stadt. Der Lärm von Käufern und Verkäufern überall, welch letztere meist auf Schiebkarren stehende bewegliche Buden haben, tönt uns überall entgegen, während die bescheidenen VierländerBlumenmädchen in ihrer eigenthümlichen Bauerntracht mit niedlichen Blumenkörbchen an den Ecken der Straßen stehend uns still ein hübsches Blumenbouquet zum Kauf anbieten oder die Hamburger Fischer mit aufgestülpten Hosen und von den Schultern herabhängenden Tonnen stumm ihres Weges gehen und rohes Matrosenvolk durch die Straßen schlendert. Jedenfalls ist das Leben weit mannigfaltiger und bewegter als in andern Städten Deutschlands. Leider wurde ein großer Teil der Zeit unserer Anwesenheit in der Stadt uns durch Regenwetter verdüstert, indessen haben wir doch trotzdem wenig Zeit verloren. So besuchten wir z. B. bei solchem Wetter die Börsenhalle, einen der interessantesten Gegenstände für den Fremden in Hamburg. Es ist dieß ein großer weiter Saal, der mehrere 1000 Menschen faßt und so hoch als das ganze Gebäude selbst, so daß darin die Stimmen gewaltig schallen. Ziemlich hoch geht ringsherum eine Gallerie für die Zuschauer, von wo man in den Saal hinunter schauen kann. Da versammeln sich nun des Mittags von 1 Uhr an bis zum Mittagessen (3 Uhr) die Handelsmänner von Hamburg bei 2000 oder 3000 und schließen da ihre Verträge etc. Von oben herunter ist es etwa anzusehen, wie das Gewimmel in einem Bienenkorbe. Von den Stimmen der vielen Männer aber giebt es solch ein gewaltiges verworrenes Getöse, daß ich es am liebsten dem brausenden Donnern eines mächtigen Wasserfalles vergleichen möchte. Daran hat die liebe Mutter gewiß noch nie gedacht, wenn sie ihr Pfund Kaffe röstete oder einen neuen Zuckerstock anbrach, daß es oft von diesem summenden Gewühl abhängt, wie viel schwerer oder leichter es ihr bei jener Arbeit wird.
Auch besuchten wir bei solchem Wetter die etwa 1 Stunde von der Stadt entfernte vom edlen Wichern gegründete Anstalt für verwahrloste Kinder im Rauhen Hause bei Horn, wo etwa 100 Kinder gepflegt und erzogen werden.

Knabenarbeitssaal im Rauhen Hause bei Horn#Illustrirte Zeitung - http://anno.onb.ac.at, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81878659

Rauhes Haus bei Horn, Lithographie 1843.#https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de

Die Kinder sind nicht, und das ist das Schöne und Gute bei dieser Anstalt, zusammen gesperrt, sondern zertheilt in einzelne kleine Familien, von denen jede von einem stellvertretenden Hausvater geleitet wird, sie wohnen in einfachen aber ordentlichen Häusern von einander getrennt und doch Alle beieinander. Alle sind aber wieder zusammengehalten durch das Bewußtsein einer großen Familie, das auch äußerlich durch den gemeinschaftlichen Betsaal und einzelne Feste angedeutet ist. Die Knaben können auch schon die Anfangsgründe von Professionen erlernen; sie mauern, zimmern, schneidern, schreinern, werden Buchbinder u. dgl. – Doch ist auf Erden nichts vollkommen und so wohl auch diese Anstalt nicht; so gefällt mir z. B. besonders nicht, daß die Kinder den vielen die Anstalt besuchenden Fremden ich möchte sagen so eigentlich vorgestellt werden, wodurch sich so leicht das Gift eines thatenlosen Hochmuthes und hohler Eitelkeit sich einschleicht. Und auch die Frömmigkeit wie sie hier (ganz ähnlich wie in Beuggen) gepflegt wird, schlägt bei Kindern, die noch kein volles inniges Bewußtsein davon haben können, zumal wenn sie aus einer so ganz andern Umgebung hieher verpflanzt werden, und mit diesem halben Bewußtsein wieder in die Welt hinaus entlassen werden, gar zu leicht in heuchlerische Scheinheiligkeit oder gar ins Gegentheil von dem um, was man in guten Absichten erzwecken wollte. Doch möchte ich dieser wohlthätigen Anstalt damit durchaus nicht zu nahe treten und erkenne gern den Geist in dem sie gepflegt und geleitet wird, als den wahrhaft christlichen der hingebenden Liebe an; so wie auch die große Wohlthat einer solchen Anstalt, zumal in der Nähe einer Stadt wie Hamburg, wo die Pracht der Welt und das Blendwerk und die Stricke des Teufels so nahe bei einander wohnen. Der Besuch der Anstalt hatte uns einen halben Tag weggenommen, die übrige Zeit verwandten wir wieder auf Hamburg und seine Umgebungen. Rings um die Stadt zieht sich ein großer breiter Wall, der jetzt in die lieblichsten Gärten und Anlagen umgewandelt ist. Eine schöne Aussicht hat man von der sogenannten Elbhöhe auf den Hafen mit seinen vielen Schiffen und dem regen Leben und auf die Stadt. – Die Gegend rings um Hamburg ist eben und mit schönen Gärten und prachtvollen Landhäusern wie übersäät. Besonders zeichnen sich auch aus die Gottesäcker vor der Stadt und in der Nähe derselben der botanische Garten. Als wir durch die Stadt hinzogen, ohne recht zu wissen wohin, sahen wir uns plötzlich mitten in die holsteinische ziemlich bedeutende Stadt Altona versetzt, darin friedliche Einwohner in Folge des letzten unglücklichen Krieges dickbäuchiges östreichisches Militär ernähren müssen, deren wir hier viele sahen. (Auch in Hamburg sind circa 5000 Mann einquartiert.) Altona ist ganz mit Hamburg verwachsen, deßwegen kamen wir so unversehens hinein. Dennoch hat die Stadt einen ganz andern Charakter als Hamburg, und obgleich der Verkehr auch hier noch bedeutend ist, so sieht es hier doch viel ruhiger und stiller aus als in Hamburg. Nicht weit von Altona liegt das stille Dörfchen Ottensen, auf dessen Kirchhof wir das Grab Klopstocks besuchten. Unter dem Schatten einer alten Linde ruht der erhabene Sänger neben seinen beiden geliebten Gattinnen; 3 einfache Grabsteine bezeichnen die Ruhestätte der Todten. Von Altona kommt man in die bewegte Vorstadt Hamburgs St. Pauli, wo Volksbelustigungen, ungefähr wie zu Basel in der Messe fortwährend abgehalten werden. Hier jedoch wie auch in einzelnen Theilen der sogenannten Neustadt ist der Sitz der Unsittlichkeit aller Art, durch den man gerne schneller seine Schritte fördert. Hamburg ist reich an Belustigungs- und Vergnügungsorten aller Art, und wenn man nur die an einem Tage in den Blättern angekündigten alle besuchen wollte, ich glaube man würde an einem Vierteljahre nicht fertig. Da sind Theater in freien Gärten, Musik und Tanz an allen Orten und weiß der Kukuk wie alle heißen. Bei unserm kurzen Aufenthalt an einem Orte, wo’s sonst so viel zu sehen giebt, haben wir zum Besuche jener weder Lust noch Zeit gehabt. An dem einen Abend haben wir das Stadtheater besucht, wo eine schöne Oper gegeben wurde, und am andern die Tonhalle, eines der größten Bierlokale Deutschlands, wo die vielen Kellner ihre besonderen Posten haben und der Weitläuftigkeit wegen einer dem Andern in die Hand arbeiten, und wo wir uns bei einem frischen Glase Bier erfrischten und ein frugales Nachtessen von Brot und Hamburger Rauchfleisch verzehrten.
Nach etwas mehr als zweitägigem Aufenthalt brachen wir am Samstag Morgen wieder auf und begaben uns auf die Berliner-Eisenbahn, wo der lange Zug dann auch bald mit uns weiter schob. Durch das Großherzogthum Mecklenburg, das uns anfänglich noch fruchtbar und schön vorkam, gelangten wir noch Vormittags in die preußischen Lande. Beim Eintritt wurde strenge Visitation über das Gepäck gehalten. – Die weiten z. Th. sandigen Ebenen, durch die wir jetzt fuhren, ist das langweiligste, das man sich denken kann und die Eisenbahn ist hier für den Reisenden eine wahre Wohlthat. Gegen Abend schimmerte uns das ersehnte Berlin mit seinen Kuppeln und Thürmen aus der Sandwüste, in der es liegt, entgegen, und bald langten wir dann auch im Bahnhofe an, von dem nicht gar so weit die stattlichen Gebäude der Uhlanencaserne und des Zellengefängnisses unsern Blick auf sich zogen. Wir bekamen bald ein Beispiel von der strengen Berlinerpolizei, indem Keiner aus dem Wagen gelassen wurde, der nicht seinen Paß vorweisen und Keiner zum Thore der Stadt herein, [der keine] Einlaßmarke vorgezeigt hatte. Wir logierten [in Töpfers] Hotel an der Louisen-Straße gut und [comfortabel.]

Quittung von Töpfer’s Hotel in Berlin#Jonas Breitenstein Nachlass im Dichter- und Stadtmuseum Liestal.

Doch ich muß hier abbrechen; Zeit und Raum [werden knapp], das nächste Mal sollt Ihr den Schluß erhalten; [verzeiht] wenn ich hie und da etwas zu weitläufig [gewesen bin], da hier eine Veränderung der Posttaxen vorgenommen wurde und die Briefe weniger kosten als früher, die aber die ich von Hause erhalte, nicht abgeschlagen haben, so will ich den Versuch machen, und diesen frankieren, er wird etwa 3, höchstens 3½ Batzen kosten. Schreibt mir doch, wie hoch er Euch kam! (Man kann die Briefe hier nämlich nur bis zur Schweizergrenze frankieren.)
Nun so lebet recht wohl, liebe Eltern und seid herzlich gegrüßt von
Euerm Euch liebenden Sohn Jonas.

Theure Eltern! Göttingen den 9ten Nov. 1851.

Doch ich bin Euch noch den Rest meiner Reisebeschreibung schuldig; da ich den wichtigern und für Euch wohl interessanteren Theil schon abgethan habe, so kann ich mich jetzt wohl etwas kürzer faßen: Wir sind in Berlin stehen geblieben. Daß die Stadt in einer Sandwüste liegt und die sogenannten Berge um Berlin wie der Kreuzberg und andere eher rechten Sandhäufen gleichen als Bergen, habt Ihr wohl schon gehört. Ebenso kann Euch ja der Vetter Doktor über die Bauart der Stadt, ihre Merkwürdigkeiten, Sitten u.s.w. besser Auskunft geben als ich es hier thun könnte. Doch Einiges muß ich noch hinzufügen. Der schönste Platz in Berlin, oder vielmehr eine Straße, sind die Linden, er hält aber mit dem Jungfernstieg in Hamburg den Vergleich bei Weitem nicht aus. Indessen sind die Schönheiten und Merkwürdigkeiten Berlins dort wie zusammengedrängt. Während die Straße anfängt mit dem berühmten Brandenburger Thor mit seinen korinthischen hohen Säulen und der darauf thronenden eisernen Siegesgöttin auf ihrem vierspännigen Wagen, endet sie auf der andern Seite in den Königsplatz, wo der königliche Palast, ebenso der des Prinzen von Preußen, das alte Musäum mit seiner Säulenhalle und daneben das neue, die Universität, das Opernhaus und andere herrliche Gebäude sich befinden. Berlin ist reich an Kunstwerken aller Art; eines der schönsten ist die letztes Frühjahr enthüllte circa 40 Fuß hohe Reiterstatue Friedrichs des Großen mitten unter den Linden, gerade vor der Universität. Auf dem hohen Piedestale, das mit Lebensbildern aus Friedrichs Zeit und Thaten in erhabener Arbeit geziert ist, reitet oben sinnend der alte Fritz mit seinem Dreieckhut, dem Stock und Degen, wie er geleibt und gelebt. Unter seinen Füßen sprengen aus den vier Ecken des Piedestals auf muthigen Pferden seine Generale hervor in Lebensgröße und getreu porträtiert, zwischen ihnen sind Handlungen von berühmten Personen aus seiner Zeit dargestellt, auch der alte Kant und der scharfsinnige Lessing dürfen nicht fehlen; Alles bis auf den entferntesten Hintergrund bietet ein reich belebtes Bild dar. Dieß Alles aus einem Guß, von des großen noch lebenden Künstlers Hand, Rauch, entworfen und ausgeführt; derselbe, der in Charlottenburg das schöne Mausoleum mit den schönen Bildwerken der Königin Luise und ihres Gemahls Friedr. Wilh. III, wie sie auf ihrem Sarge ruhen, geziert hat.

Im Sockel des Reiterstandbildes von links: Finckenstein, Schlabrendorf, Carmer, Graun, Lessing und Kant#Mutter Erde - Eigenes Werk, Attribution, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2236907

Den berühmten Thiergarten habe ich nicht so schön gefunden, als ich mir ihn vorgestellt. Dagegen haben wir im alten Musäum die schöne und reichhaltige Gemäldegallerie, so wie den Antikensaal bewundert, wo die herrlichen Statuen der alten Griechen Zeit noch jetzt das Auge des Beschauers mit unwiderstehlichem Reize an sich fesseln. Das neue Musäum, mit dem alten verbunden, aber noch lange nicht vollendet, wird diesem den Rang streitig machen wollen. Gleich beim Eingang sieht man sich in einen ägyptischen Tempel versetzt, wie er zu Josephs Zeit ausgesehen haben mag, und eine reiche Sammlung von Alterthümern findet man hier. Doch so schön auch dieß und Vieles andere noch ist und sein mag, Berlin mußte mir, wenigstens in gegenwärtiger Zeit, nicht gefallen. Die Reaktion macht sich hier geltend wie nirgends, und scheu schleicht Einer am Andern vorbei, weil man vor Spionen aller Art nirgends sicher ist. Auch uns spielte die servile Polizei eine Chikane, wahrscheinlich weil wir Schweizer waren. Nachdem wir unsere ganz richtig bestellten Pässe gleich bei der Ankunft an die Polizei abgeliefert hatten, wie es recht war, und nun dabei wenigstens an andern Orten ruhig hätten sein können, wurden wir am zweiten Tage unseres Aufenthaltes früh Morgens auf ein Polizeibüreau citiert (es war das 25te Berlins).

Berliner Polizeiuniformen 1851.#http://www.historischer-bilderdienst.de/uniformen/deutschland/polizeiuniformen/ballhorn-das-polizeipraesidium-zu-berlin-1852.php

Wir erschienen, wurden über den Zweck unserer Reise befragt und sodann [wurde] uns beordnet ohne daß wir wußten wie und warum und wohin, mit einem Constabler wie Schelme durch die Stadt zu wandern, eine gute halbe Stunde beim scheußlichsten Regenwetter auf das Stadtbüreau od. wie es heißt, am Molkenmarkt. Nachdem wir dort den ganzen Vormittag gewartet, wurde uns gesagt, wenn wir uns länger aufhalten wollten, so müßten wir Aufenthaltskarten vom Universitätsgericht uns verschaffen. Da dieß erst am folgenden Tage saß und wir keine Lust hatten, uns weiter mit diesen Geschichten herumzuschleppen so erklärte ich zuerst, und die Andern stimmten bei, das gehe nicht an, wir wollten fort, die Herren möchten so gut sein und unsere Pässe visieren, was dann auch richtig geschah.

Mit unsern Pässen im Sack blieben wir noch einen Tag in der Stadt, besahen uns eilends, was wir noch sehen wollten und zogen sofort mit der Eisenbahn nach Dresden. Sachsen ist ein liebliches freundliches Land und hat wenigstens auch Berge. Die Leute sind gemüthlich und freundlich und bei weitem nicht so steif wie die Herren Berliner. Dresden ist keine sehr schöne wohl aber eine recht freundliche Stadt. Von der Brühlschen Terrasse hat man eine herrliche Aussicht auf den Elbstrom und dessen blühende Ufer, an dem in einiger Entfernung das Waldschlößchen und andere schöne Punkte sich erheben. Die neue steinerne Eisenbahnbrücke mit ihren weiten Bogen ist ein Meisterwerk der Baukunst. Die Kirchen und Paläste der Stadt sind meist im Zopfstil erbaut, wie die älteren schönen Häuser in Basel. In Dresden findet man ein reiches Künstlerleben und in der berühmten Gemäldegallerie, wo wir vorzüglich die sixtinische Madonna bewunderten, haben Künstler und Künstlerinnen in allen Säälen ihre Staffeleien aufgeschlagen und malen ungestört zu, so viele Zuschauer auch an ihnen vorbeieilen oder sie umringen mögen. In dem sogenannten grünen Gewölbe, der Schatzkammer des Königs, haben wir neben vielen Kunstwerken, Schnitzereien aus Elfenbein, getriebenen Arbeiten in Gold und Silber auch Halsketten von kostbaren Diamanten u. dgl. mehr gesehen.

Vom Ausflug in die sächsische Schweiz habe ich Euch geschrieben. Von Dresden fuhren wir wieder per Dampf nach Leipzig, der berühmten Bücherstadt oder wie ich sie nennen soll. Von Gellerts einfachem Grabmal haben wir uns zum Andenken einen Cypressenzweig mitgenommen. Sein bescheidenes Denkmal steht in einem stillen Lustwäldchen. Die Stadt selbst ist nicht sehr schön, und die Häuser sind von unten bis oben mit Tafeln, Anzeigen etc. wie beklebt. Von hier reisten wir nach Halle, der ruhigen Stadt und besuchten das Waisenhaus, wo auch das Denkmal des edlen Stifters Francke steht. Über Magdeburg gelangten wir nach Braunschweig, von wo aus wir unsere Schritte wieder Göttingen zulenkten. Wir nahmen (jetzt Grieder und ich allein) unsern Weg durch den Harz, und zwar froh, einmal des Treibens auf den Eisenbahnen los zu sein, zu Fuß. Von Goslar, der alten und alterthümlichen Kaiserstadt aus giengs durch das schöne Ockerthal mit seinen prächtigen Tannenwäldern und steilen Bergen hinauf nach der Bergstadt Clausthal und dem damit zusammenhängenden Zellerfeld, deren Bewohner fast lauter Bergleute sind. Wir unterließen nicht, eine Grube zu befahren, wobei man jedoch ein Bischen vorsichtig sein muß, wenn man nicht verunglücken will.

Historisches Schachtgebäude im Oberharzer Bergwerksmuseum#Matthias Becker, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27877117

Die Sache gieng ungefähr so: Nachdem wir uns beim Obersteiger gemeldet und Bergmannskleider angezogen hatten (weil man sehr schmutzig wird) zogen wir mit zwei Steigern nach der Hütte, die sich über dem Ausgang der Grube erhebt (diese letztere geht nämlich von der Höhe des Berges senkrecht hinunter). Unsere Knappen zündeten ihre großen Bergmannslampen an, „Glück auf“ tönte uns von den oben bleibenden Knappen der Bergmannsgruß entgegen, und hinunter giengs in die Grube. Je ein Knappe gieng mit seiner Lampe die senkrecht stehende Leiter, deren Sproßen von Erde und dem immer herabtriefenden Wasser ganz schlüpfrig sind, voran, wir hintendrein.

Blick senkrecht nach unten in den Schacht#JuTe CLZ - Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8264898

Zur Entleerung gestürzte Fördertonne aus dem 19. Jahrhundert auf der Hängebank#JuTe CLZ - Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8264898

Die Hauptsache ist, daß man sich mit den Händen recht festhält und die Füße mehr gehen läßt, so giengs nun weit hinunter, eine Leiter über der andern. Die Wände der engen Grube sind durch festes hölzernes Stützwerk vor dem Einsturz gesichert. Nachdem wir einige 100 Fuß hinuntergestiegen waren, gelangten wir nun in die weit unter dem Berge durch Gestein hin verzweigten Gänge, wo das Erz gewonnen wird. Wo nun eine metallreiche Ader dem Bergmanne sich zeigt, da wird gleich hineingegraben und, wo man sich sicher genug glaubt, mit Pulver gesprengt. Durch eine Maschine, die von oben herunter geht, werden sodann die gewonnenen Erze ans Tageslicht gefördert und in den nahen Hüttenwerken geschmolzen. Es ist einem ganz sonderbar zu Muthe, wenn man in diesen tiefen unterirdischen Gängen herumwandelt, tief unter dem gewöhnlichen Wohnsitz der Lebendigen. Und doch verweilt hier unten ein ganzes Bergvölkchen und findet da seine saure Arbeit und seines Lebens Unterhalt. Bei der beständigen Gefahr, in der bei einer solchen Arbeit die Leute hier schweben, entwickelt sich auch ein stiller frommer Sinn, wie man ihn anderswo selten findet und der einen Jeden, der offenen Herzens ist, innig rühren muß. Da hört man kein Fluchen, Pochen und Schelten, sondern stille friedliebende Worte. – Durch Wasserbäche, die in diesen Tiefen rauschen, wird der Unrath weggeleitet und kommt etwa 2 Stunden entfernt bei einem andern Ein- od. Ausgang heraus. Wir giengen jedoch nicht so weit, sondern nachdem wir etwa 700 Fuß tief gestiegen (während es wohl noch 1000 Fuß hinuntergieng), giengen wir wieder allmählig in die Höhe und gelangten aus einer andern Grube wieder ans Tageslicht. Aus dieser Tiefe habe ich einige Erze zum Andenken mitgenommen. Es wird in diesen Gruben hauptsächlich Blei, etwas Silber und ein wenig Gold gewonnen. Die Gruben sind jedoch bald erschöpft und tragen kaum mehr die Kosten des Unterhaltes aus. – Nachdem wir uns auch dieses besehen, kehrten wir über Osterrode nach Göttingen zurück, von wo wir mit Freuden auf die interessante lehrreiche und erheiternde Reise zurückblickten, an die wir wohl immer denken werden. […]