Wilhelm Wackernagel
Wackernagel, Wilhelm, (1806–1869), Schriftsteller, Germanist, Kunst- und Kulturhistoriker. Der in Berlin gebe Wackernagel studierte nach dem Besuch des Gymnasiums 1824–1827 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Im Zuge der sog. Demagogenverfolgung musste er 1833 Deutschland verlassen und wurde Lehrer am Basler Pädagogium. Ab 1835 lehrte er an der Universität Basel, wo er 1841, 1855 und 1866 das Rektorat innehatte. Neben den Gebrüdern Grimm gehört Wackernagel zu den bedeutendsten Germanisten seiner Zeit. In späteren Lebensjahren wurde er zudem ein Pionier in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit bestimmten kunsthistorischen Teildisziplinen (Arbeiten über die Geschichte der Glasmalerei und über das goldene Antependium aus dem Basler Münster) und betrieb auch historische Studien. Er initiierte und leitete die Mittelalterliche Sammlung, die Vorläuferin des Historischen Museums Basel.
Wackernagel, der selber Gedichte veröffentlichte, erkannte früh Breitensteins literarische Ader und förderte diese Begabung, indem er ihn in den kleinen Kreis seiner literarisch begabten Studenten aufnahm.
Jonas Breitenstein an Professor Wilhelm Wackernagel mit einer ersten Auswahl seiner «Jurablüthen oder der Versuch neuer allemannischer Gedichte»
Tit. Herr Professor!
Die kleine Arbeit, die ich Ihnen hiemit überbringe, soll nicht etwa eine freiwillige Arbeit sein, wie man sie bisweilen im Paedagogium zu machen pflegt, sondern ich wollte nur die wenigen und geringen Erzeugnisse meiner Mußestunden Ihnen zur Beurtheilung vorlegen. Zwar wage ich kaum mit solchen Arbeiten vor Sie zu treten, die ich wegen ihrer Mangelhaftigkeit nicht einmal meinen Mitschülern zu zeigen mir getraute. Da es nun aber einmal meine Art ist, nichts für mich behalten zu können, wofern ich es wagen darf, es Andern mitzutheilen, so faßte ich den Entschluß, auch diese Arbeit einem Kenner zu zeigen. Und aufgemuntert durch die treue Theilnahme, die Sie mir von je und besonders auch in der letzten Zeit bewiesen haben, habe ich das Zutrauen zu Ihnen und den Muth gefaßt, die Sammlung dieser wenigen Gedichte, wenn ich sie so nennen darf, als ein junges Bäumchen mit allen seinen wilden Sprossen, Ihnen vorzulegen, um Ihre Meinung darüber zu hören. Daß diese Gedichte mangelhaft und voll von Fehlern sind, muß ich selbst eingestehen, zumal da ich, indem ich sie verfaßte, nur eine sehr mangelhafte Kenntniß der Metrik besaß und zudem stets zweifelhaft war, welche Form eines Wortes ich gebrauchen und wie ich es schreiben sollte, da unser Dialekt auch in sehr engen Grenzen die mannigfaltigsten Veränderungen und Abstufungen zeigt, so daß ein und dasselbe Wort verschieden ausgesprochen wird. Heißt doch nicht in ein und demselben Dorfe z. B. die zweite Pers. praes. des Verbums können: channsch, chˉasch, chausch, cheusch, wird das Adj. klein sogar oft von derselben Person chlei und chli ausgesprochen, etc. … Was mich antrieb, diese Gedichte zu verfassen, war nicht etwa Sucht nach Ruhm oder Geld, obschon ich freilich das letztere sehr wohl zu gebrauchen wüsste; denn ich sah wohl ein, daß sie mir weder das eine noch das andere würden verschaffen können. Es war für mich eine Erholung nach den andern Arbeiten, wenn ich eine solche Arbeit vornehmen durfte, eine Erheiterung in trüben Stunden. Wenn in der Einsamkeit, und Verlassenheit meines Zimmers die trüben Gedanken des Unmuthes in meiner Seele aufsteigen und mein Gemüth verdunkeln wollten, so versetzte ich mich gern in das schöne frühere Leben, das ich einst gelebt und dem ich mich selbst entrissen habe, rief ich die schmucklosen aber heitern lebensfrischen Bilder meiner Jugendzeit und meiner frühern Umgebung in die sehnsüchtige Seele zurück und suchte sie so gut als möglich zu zeichnen, welches denn auch der Grund ist, warum ich diese Gedichte in unserer Mundart verfaßt habe. Und nur als solche, freilich sehr undeutlich und fehlerhaft gezeichnete Bilder, möchte ich Sie bitten, diese Gedichte zu betrachten.
Indem ich Ihrem Urtheil erwartungsvoll entgegen sehe, bleibe Ihr ergebenster
Schüler Jonas Breitenstein
Hochverehrtester Herr Professor!
Kaum darf ich es wagen, mein hochverehrtester Lehrer, mit diesen wenigen Zeilen vor Sie zu treten, da ich Ihnen dieselben so lange schuldig geblieben bin. Möchten Sie diese meine Saumseligkeit nicht etwa einer undankbaren Gleichgültigkeit zuschreiben, sondern mit milder Nachsicht in Folgendem einige Gründe zu meiner Entschuldigung finden! Denn daß ich Ihnen noch immer in gleicher Liebe zugethan bin wie früher und die gleiche Hochachtung für Sie im Herzen trage, das darf ich Ihnen mit redlichem Gewissen bezeugen, und groben Undankes müßte ich mich selber zeihen, wenn dieß nicht so wäre; denn wie viel Sie mir durch Ihre liebevolle Theilnahme geschenkt und mich Ihnen auf immer verpflichtet haben, habe ich Ihnen noch viel zu wenig beweisen können. Waren Sie es doch, der Sie durch den Blick ermunternder Anerkennung wenigstens meines guten Willens, so schwach auch dieser war, mir zuerst wieder neuen Lebensmuth einflößten und mein schon von manchen Sorgen umdüstertes Gemüth wieder erheiterten und belebten; und haben Sie dem einsam stehenden Jüngling liebreich Ihre Hand geboten und ihn zu Ihnen heraufgezogen, um ihn den wahren Genuß des Lebens in des lebendigen Wortes tiefer Fülle und in der Freundschaft edler Menschen kosten zu lassen, da er in seiner wenigstens theilweisen Isoliertheit so sehr in Gefahr kommen konnte in die Gemeinheiten des Alltagslebens hinabzusinken! Wohl konnte jener befangene Jüngling die zahlreichen Beweise Ihrer steten Theilnahme nicht durch fließende Worte des Dankes erwiedern, aber er brachte doch für sie ein empfängliches Gemüth, in welchem sie Eindrücke der wohlthätigsten Art hinterlassen haben, die nie erlöschen werden. Warum ich nun aber Sie so lange nichts von mir habe erfahren lassen, hat seinen Grund einfach darin, daß ich Ihnen nicht eher schreiben wollte, als bis ich Ihnen auch etwas Rechtes zu melden wüßte und Ihnen wenigstens auch nur im Allgemeinen etwas von den hiesigen Vertretern der philologischen und philosophischen Wissenschaften sagen könnte. Leider muß ich Ihnen aber gestehen, daß ich auf diesem Gebiete bis jetzt hier noch zu wenig mich umgeschaut habe, um Ihnen ein wenn auch nur unvollkommenes Bild davon zu geben. Denn so wenig ich auch aus meiner Berufswissenschaft ein bloßes Brotstudium machen möchte und gerne immer einen offenen Sinn und ein aufmerksames Ohr für Alles Wissenswürdige besonders auf jenen der Theologie verwandten Gebieten behalte, so sehr mahnt mich doch die Stimme meines Gewissens und leitet mich ein ernster Zug, dem zu widerstehen ich für Sünde hielte, mich mit vollem Ernste und ganzer Seele dem von mir erwählten und mir immer lieber gewordenen Studium der Theologie mich hinzugeben, um, wenn ich hierin fester gewurzelt, dann einen um so ruhigern und aufmerksamern Blick den andern Wissenschaften und dem Leben zuwenden zu können, freilich ohne diese dann darum liegen zu lassen. Meine Beschäftigung mit der deutschen Litteratur und den alten Klassikern beschränkt sich daher auf wenige Privatstudien, oder wenn Sie lieber wollen, Erholungen. Da ich gerade Ethik hörte, so las ich z. B. im Sommer Ciceros Werk De officiis, dessen feine Darlegung der Pflichten die umsichtige Klugheit des Staatsmannes und die große Menschenkenntniß und ebenserfahrung des Weltweisen beurkundet; im eigentlichen Grund und Kern ist es aber so weit von der christlichen Ethik verschieden als das römische Heidenthum vom lebendigen Christenthum selbst. Hier ist die Pflicht die sittl. Bestimmung des Handelns aus dem innersten Lebenstrieb hervor, dort bleibt sie mehr oder weniger bloß äußerliche Verpflichtung. Um der deutschen Litteratur und ihrer Geschichte nicht ganz fremd zu bleiben, habe ich mich mit Vilmars „Geschichte der deutschen Nationallitteratur“ beschäftigt, wobei mir Ihr treffliches Lesebuch gute Dienste leistete. Jedoch muß ich Ihnen gestehen, daß ich in jenem Werke, so schön und anziehend es auch geschrieben ist, doch nicht finden konnte, was ich suchte. Ich suchte darin Belehrung u. klare Einsicht in die Gebiete, wo ich noch ein Unerfahrener genannt werden kann, fand aber bloß kräftige Anregung zum weitern Studium und unmittelbaren Ausdruck der Empfindung von einem Kunstgenuß. So sehr der Verfasser, indem er uns mit in seine Gefühlswelt hineinzieht, uns zu fesseln weiß, uns erbaut und hie und da uns auch einen richtigen Standpunkt anweist, so wenig bietet er doch im Grunde Positives, auf welches die Untersuchung selbstständig bauend wir unser eigenes Urtheil über die Dinge uns bilden und ein festes bleibendes Bild der Entwicklungsgeschichte uns aneignen könnten. Denn so lange wir nur über eine Sache reden hören ohne recht eigentlich hineingeführt zu werden, so werden wir noch kein Urtheil aus der Sache heraus uns entnehmen können, wenn wir auch schon tausende darüber vernommen hätten. Daß Ihre Litteraturgeschichte herausgekommen, habe ich gehört, ich habe aber leider noch nicht Gelegenheit gehabt, sie zu sehen; immerhin freue ich mich sehr darauf, sie einmal mit Muße durchzunehmen, zumal da meine Hoffnung, über diesen Zweig der Wissenschaft bei Ihnen zu hören, nie in Erfüllung gegangen ist. In einem freundlichen Lesezirkel haben wir an Shakspears Lektüre (in der Schlegelschen Uebersetzung) wahrhaft unsern Geist erfrischt; leider hat sich aber die Sache zerschlagen, ehe wir das Vorhaben völlig ausgeführt.
Da ich Ihnen nach dem oben Bemerkten nichts von Belange zu schreiben weiß, so muß ich mich auf Einzelnes einlassen, das für Sie von weniger Interesse sein mag, das aber doch gerne als ein kleiner schwacher Beweis meines steten Andenkens an Sie angesehen wäre. Daß ich Göttingen oder vielmehr seine Universität zum Behufe der Weiterbildung und Befestigung meines theologischen Studiums mir ausersehen habe, soll mich nie gereuen, und der reiche wissenschaftliche Genuß der mir hier geboten wurde sowie die der ganzen Anlage meines Geistes entsprechende und nach meiner Ueberzeugung vollkommen wahre Richtung der vorzüglichsten hiesigen Vertreter der Theologie, besonders eines Lücke, den ich tief verehre, haben mich bewogen, auch noch das Wintersemester allhier zuzubringen. Nur Weniges sei mir über jene Männer und ihre Richtung Ihnen zu sagen vergönnt. Allen weit voran steht mir Herr Abt Lücke, ein im treuen Dienste der Wissenschaft ergrauter und im steten Kampfe der Entwicklung erprobter Mann, körperlich gebeugt durch die Schläge des Lebens und die Schwächen des Alters, aber noch ein Jüngling an Frische des Geistes und tiefer Innigkeit des Gemüthes, lebenslustig und lebenskräftig, wo es sich handelt um die höchsten Güter der Menschheit und um die lebendige Anerkennung des Herrn, dem er dient; ein ächter Theologe, von altem Schrot und Korn! Seine Richtung in der Theologie ist, um sie kurz zu bezeichnen, eine entschiedene Mitte; nicht jenes unbestimmte Schwanken nach dieser und jener Seite und charakterlose juste milieu so vieler Tageshelden, die es mit Keinem verderben möchten, sondern eine Mitte, die auf fester Ueberzeugung gegründet jedem Extreme entschieden entgegen tritt und sowohl jene unhaltbare steife u. auf den bloßen Buchstaben sich steifende Orthodoxie und einseitige confessionelle Ausschließlichkeit, wie sie den ewig fortschreitenden Gang der Geschichte auf Altes, das den geschichtlichen Prozeß durchgemacht hat, zurückschraubt, bekämpft, als auch jene frivolle Freigeisterei, die im Zerwürfniß mit Gott, der Welt und sich selbst mit stolzer Aufgeblasenheit und Wissensdünkel alles Positive aufzulösen und die Religion ihres realen Inhaltes zu entleeren bemüht ist, ad absurdum führt und das menschliche Erkennen und Wissen in seine von Gott ihm gesetzten Schranken zurückweist. Lückes Vortrag ist einfach und ungeschminkt, aber gediegen. Was er in scharfer dialektischer Entwicklung der Gedanken erörtert hat, das belebt er sofort durch schlagende Beispiele, die er mit feinem Takte aus der Wirklichkeit und dem Flusse des Lebens herausgreift, um sie im Lichte der Wissenschaft dem richtigen Verständniß nahe zu bringen, und er führt somit seine Zuhörer an sicherer Hand nicht nur durch die Gebiete abstrakter Wissenschaft sondern auch auf den Kampfplatz der realen Wirklichkeit. – Auch Herr Prof. Ehrenfeuchter ist ein Mann von hoher wissenschaftlicher Bildung und gründlicher Kenntniß des Lebens in seinen vielfachen Beziehungen, daher er mit großem Erfolge auf dem Gebiete der praktischen Theologie arbeitet. Seine Vorlesungen über diese theologische Disziplin bilden ebensosehr ein schönes organisch zusammenhängendes wissenschaftliches Ganzes, als sie reich sind an trefflichen Winken für den künftigen praktischen Geistlichen. – Um es noch nachzuholen, bemerke ich hier, daß ich bei Herrn Lücke Ethik, Dogmatik u. Exegese, in welch letzterer er die Meisterschaft errungen, hörte u. noch höre. – Doch über alle Dozenten, die ich mehr oder weniger kenne, hier mein Urtheil abzugeben, würde mich hier zu weit führen; es genüge daher, an diesen beiden. Was den äußern Stand der Universität betrifft, so ist die Zahl der Studenten nicht mehr so bedeutend wie früher und wird in diesem Semester kaum 700 betragen. – Die Erinnerung an seine großen Gelehrten ist in Göttingen lebendiger als die an seine Dichter Bürger und Heine, von denen der Name des erstern fast ganz verschollen ist und an den nur einunbedeutendes Denkmal vor dem Gronderthore erinnert; ein Loos, das vielleicht Vieles aus seinem Leben und die in seiner verkehrten Richtung entstandenen Gedichte nicht aber die herrlichen kraftvollen Gesänge aus seiner guten Zeit verdienen. Die Stelle, wo der Hainbund geschlossen wurde, wird noch gezeigt; das trockene dürre Erdreich mit seinen magern Bäumen deutet symbolisch auf unsere trockene Zeit. Was in Beziehung auf poetische Produktion meine Wenigkeit betrifft, so haben in jüngster Zeit die Musen mir gar wenig zugeflüstert, und wenn es auch bisweilen geschah, so fand ich zu wenig Zeit, dem Gefühle seinen bestimmten Ausdruck zu geben. In den letzten Ferien habe ich eine Runde in Deutschland gemacht und auch Ihre Vaterstadt Berlin besucht. Ich sah und bewunderte da des Herrlichen und Bewundernswürdigen gar viel, es haben mich besonders das alte Musäum, das Mausoläum in Charlottenburg u. die Reiterstatue Friedrichs des Großen angezogen. Die Reaktion und eine drückende Büreaukratie scheint mir jedoch gegenwärtig zu weit zu gehen; so wie die Chikane, die uns die Polizei spielte, nämlich daß sie uns trotz der Richtigkeit unserer Pässe und der richtigen Abgabe derselben bei unsern unschuldigsten Absichten, mit einem Constabler von Büreau zu Büreau schickte, und uns fast nöthigte, fortzugehen, keineswegs geeignet war, unsern Aufenthalt daselbst zu versüßen.
Empfangen Sie mit Nachsicht diese Zeilen als einen Beweis der Dankbarkeit Ihres ergebensten Schülers
J. Breitenstein stud.th.
Hochverehrter Herr Professor!
Das beiliegende Büchlein [«Bilder und Erzählungen aus dem Baselbiet»] ist die Erstlingsarbeit eines Ihrer früheren Schüler, der Sie herzlich bitten möchte dasselbe als ein kleines Zeichen der steten Hochachtung, Dankbarkeit und Liebe annehmen zu wollen, welche er Ihnen in seinem Herzen bewahrt hat. Es ist freilich keine wissenschaftliche Arbeit, welche er Ihnen hier bieten kann und womit sonst wohl dankbare Schüler Ihre Lehrer ehren und erfreuen, es sind vielmehr, wenn ich mich des Bildes bedienen darf, bescheidene Feldblumen, welche auf dem Gange von der Arbeit des Tages in der Eile sind gepflückt und zu einem Sträußlein gewunden worden. Wenn dennoch in der Darstellungsweise und in den einzelnen Skizzen, welche das Büchlein enthält, hie und da etwas Gutes sollte gefunden werden, so gebühret der bessere Theil des Verdienstes Ihnen, der Sie mit so viel Weisheit, Liebe und Treue jede Gabe und jedes Talent Ihrer Schüler wußten zu erkennen zu schätzen und zu bilden und der Sie auch mir so Vieles Liebe zugewendet haben. Schon lange fühlte mich gedrungen, Ihnen diese meine Gefühle zu bezeugen; Sie wollen mich entschuldigen, wenn ich auf die Gelegenheit wartete, um es in der Weise zu thun, in welcher es jetzt geschieht.
Mit steter Hochachtung und Liebe verharre Ihr dankbarer
J. Breitenstein Pfr.